Schach und Geschichte - interessante Dissertation

Was hat Schach mit Nationalsozialismus und Antisemitismus zu tun? Was hat Schach mit der Arbeitersportbewegung zu tun? Und was hat Schach mit dem Ost-West-Konflikt zu tun? Sehr viel: Denn das Schachspiel ist ein Kulturprodukt. Es spiegelt gesellschaftlich-historische Zusammenhänge wider und reagiert wie ein Seismograph auf kulturelle Veränderungen. Das sind Ergebnisse der Dissertation »Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts«, die Dr. Edmund Bruns im Studiengang Geschichte der Universität Bremen kürzlich vorgelegt hat. In seiner sozialgeschichtlichen Analyse bezieht er gesellschaftliche Trends auf Entwicklungen im Schach. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt dabei im 20. Jahrhundert.

Die Geschichte des Schachspiels ist also eine Geschichte der Veränderung. Anhand von Spielverständnis und -systemen lassen sich Entwicklungen im menschlichen Denken nachvollziehen. Schachspieler setzen sich mit der Lage von Kräften in der Welt des Schachbretts auseinander — und schaffen damit Konturen menschlicher Kultur.

Die Spielweise der spanischen und italienischen Meister des 15. und 16. Jahrhunderts war beispielsweise geprägt von Kombination, Geradlinigkeit und Angriffsstil. Figurenopfer galten als ästhetisches Ideal dieser Zeit. Erst der Franzose François André Philidor (1726 – 1795) fügte eine andere Betrachtung hinzu: Er gab den Bauern eine ganz neue Rolle, indem er sie zur Seele des Spiels erhob. Aufklärung und Gleichheit des Individuums finden sich in dieser Spielstrategie.

Wilhelm Steinitz (1836 – 1900), erster offizieller Schachweltmeister, verfeinerte das Prinzip der kleinen Vorteile zu höchster Präzision. Mit der Entwicklung der Schachstilrichtung der »Hypermodernen« nach dem Ersten Weltkrieg entstand eine neue Dimension im evolutionären Schachprozess. Die »Hypermodernen« stellten die nach Steinitz klassisch gewordene Betrachtung des Schachs in Frage. Mit ihren neuen positionellen Ideen über das Zentrum des Schachbrettes brachten sie Gesetze und Regeln in das Schach ein, die im realen Leben für erfolgreiches Handeln stehen.

Auch zeitgenössische Erscheinungen auf politischer Ebene finden sich im Schachspiel wieder. Beispiel Antisemitismus: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte den Wandel des romantischen zum wissenschaftlichen Schach, das sich an erlernbare Strategien hielt und nach rationalen Normen richtete. Die Moderne hatte wie in der Wissenschaft und der Kunst auch im Schachspiel Einzug gehalten und ihre führenden Vertreter waren auch hier Juden.

Der Wiener Franz Gutmayer (1857 – 1937) kritisierte als einer der ersten am vehementesten die neuen Ideen der Juden im Schach, welche dem Schach die Schönheit, seine Romantik und damit den Kampfgeist genommen hätten. Juden schufen laut Gutmayer Theorien statt kunstvoller Intuition und »feiges Totsitzen« statt »offenem Kampf«. Doch vor allem warf Gutmayer den Juden vor, das Schachspiel als Einkommensquelle zu missbrauchen und mit dieser Kommerzialisierung das schöne Spiel mit seinen hohen Idealen zu zerstören. Franz Gutmayer bediente sich vor allem der später vom Nationalsozialismus benutzten Verbindung von Schmutz und Sauberkeit. Er bemühte eine biologische Metaphorik, bei der sich die Säuberung des Schachs von den schmutzigen Juden geradezu aufdrängte. Wilhelm Steinitz und andere jüdische Schachspieler bezeichnete er als Bandwürmer, Perverse oder Blattläuse. Den Juden wurden also in ihrer angeblichen Art, Schach zu spielen, die gleichen antisemitischen Vorwürfe gemacht, denen sie sich in der Geschichte des Antisemitismus immer gegenüber sahen. Ein feiges Volk, nur auf materiellen Gewinn aus, nicht vom Kampfgeist, sondern von einem reinen Verteidigungsgedanken geprägt. Der Zusammenhang zwischen der Kultur Schach als Kultur des Alltags und der Geschichte des Antisemitismus tritt deutlich zu Tage. Die Beschäftigung mit dem Antisemitismus auf dem Schachbrett gibt zwar keine Erklärung darüber ab, warum es ihn gab, zeigt aber, dass er sich im Alltag durchsetzte und das jüdische Schachspieler ihn gänzlich unterschiedlich verarbeiteten.

Die Arisierung der Schachliteratur integrierte sich eindeutig in das Bemühen der Nationalsozialisten, sich vor fremdrassigen Einflüssen zu schützen. Schließlich leugnete der Nationalsozialismus den Eigenwert der anderen Völker, ebenso wie er eine Ergänzung durch sie verachtete. Höhepunkt bildete die vom 18. – 23. März 1941 erschienene Betrachtung des damaligen Schachweltmeisters Alexander Aljechin über das angebliche jüdische Schachspiel in der Pariser Zeitung und im April 1941 in der Deutschen Zeitung in den Niederlanden. »Jüdisches und arisches Schach, eine psychologische Studie, die — gegründet auf die Erfahrungen am schwarz-weißen Brett — den jüdischen Mangel an Mut und Gestaltungskraft nachweist.«

Ferner instrumentalisierten die Nationalsozialisten das Schach als Erziehungsmittel für eine wehrhafte deutsche Jugend. Der Stellenwert des Schach als Erziehungsmittel im NS-Staat, als Stärkung des »deutschen Volkstums«, als Mittel zur Klassenversöhnung, als Möglichkeit zur Soldatenbetreuung und als Abgrenzungsgegenstand den Juden gegenüber zeigt die Indienstnahme des Brettspiels für die Durchsetzung nationalsozialistischer Interessen.

Auch in der Arbeiterbewegung spielte das Schachspiel eine bedeutende Rolle. Die während des Ersten Weltkrieges einsetzende nationale und internationale Differenzierung der Arbeiterbewegung zeigte sich in einem erheblichen Maße auch in der Arbeiterschachbewegung. Die Kräfte polarisierten zur SPD und KPD, die in den zwanziger Jahren versuchten, die Arbeitersportbewegung in ihren politischen Kampf mit einzubeziehen. Bis 1927/28 kam es zu keiner einheitlichen politischen Zustimmung zu einer der beiden politischen Richtungen in der Arbeiterschachbewegung. Diese Uneinigkeit führte zu Auseinandersetzungen, die es versäumen ließen, den aufstrebenden Nationalsozialismus einen massiven Block entgegenzusetzen. Nach erfolgter Spaltung der Arbeiterbewegung bekannten sich viele Arbeiterschachspieler entweder zur SPD oder KPD. Eine dritte Möglichkeit war die gänzlich unpolitische, die des reinen Schachspiels, welche unter den Mitgliedern der Schachvereine sicherlich am weitesten verbreitet war. Dennoch war das Verhältnis untereinander bis zur Zerschlagung durch die Nationalsozialisten sehr gespalten. Die Arbeiterschachbewegung bettete sich mit dieser Entwicklung nahtlos in die allgemeine Entwicklung der Arbeitersportbewegung ein.

Der »Kalte Krieg« als bis ins Jahr 1990 hinein bestimmendes Merkmal der Weltpolitik zog wie selbstverständlich auch das Schachspiel in seinen Bann. Nicht zuletzt, weil gerade die Sowjetunion das Schachspiel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihren erfolgreichsten Vertretern als sozialistische Kulturoffensive gegen die westlich dekadente Kultur verstand. Die Vertreter von Ost und West setzten sich direkt und indirekt auf den verschiedenen Feldern von Politik, Sport und Kultur auseinander. Sie trafen sich auch auf dem Schachbrett.

Auch unsere Medien- und Informationsgesellschaft hat das Schachspiel nachhaltig beeinflusst. Durch die Computer-Simulation haben sich das wissenschaftliche Arbeiten und das wissenschaftliche Denken verändert. Es entstanden neue Bezüge zwischen der Wissenschaft und anderen kulturellen und sozialen Bereichen. Die Computertechnologie ist in alle Lebensbereiche eingedrungen, das Schachspiel ist von dieser Entwicklung nicht unberührt geblieben. Zwar gehört das Schachspiel nicht zu den gesellschaftlich und ökonomisch wichtigsten Bereichen der Automatisierung, doch hat es die Menschen immer wieder zu dem Versuch herausgefordert, Intelligenz künstlich zu simulieren. Gerade das Schachspiel galt seit je her als Herausforderung für die Automatenkunst, weil viele Menschen glaubten und glauben, dass eine gewisse Intelligenz zum guten Schachspiel gehört.

Warum wurde Schach — ein simples Brettspiel — zum einen von gesamtgesellschaftlichen Strömungen wie der Romantik oder der Industrialisierung mitgerissen und zum anderen durch gesellschaftliche Gruppen — Arbeiterbewegung, Nationalsozialisten, Ost und West — instrumentalisiert? Das Schach bot sich offensichtlich wegen des Konflikts zweier Mächte mit einer komplexen Hierarchie verschiedener Steine an, um verschiedene extreme kulturelle Ansichten auf seinen 64 Feldern aufeinander prallen zu lassen. Doch trotz der permanenten kulturellen und politischen Zuschreibung hat sich Schach als komplexes Spiel niemals Schachmatt setzen lassen.

Weitere Informationen:
Universität Bremen
Studiengang Geschichte
Dr. Edmund Bruns
Tel. 04952 / 808566, E-Mail: edmund.bruns@ewetel.net

Der Autor ist Mitautor einer Webseite zum Thema Schachgeschichte und Geschichten.

Universität Bremen


Liebe Schachfreunde,

gerade bin ich auf die angefügte Veröffentlichung der Universität Bremen aufmerksam gemacht worden.

Eine weitere Frage, der die Dissertation offenbar nicht nachgeht, wäre: Was hat einen Schachspieler im ausgehenden 19. Jh eigentlich antreiben können, diesem Spiel / Sport zumindest mit hohem Zeitaufwand nachzugehen? Wer an Turnieren teilnehmen wollte, musste reisen, denn es fand nur alle paar Jahre an wechselnden europäischen Städten ein ernsthaftes Turnier statt. Das bedeutete, dass der Schachspieler dafür Zeit, Muße und vor allem Geld

haben musste. Der eine oder andere Gönner ist bekannt, etwa jener Kreis in Wien, der es (wie sich herausstellen sollte, nicht unbedingt zum Wohle des psychisch auffälligen) Carl Schlechter ermöglichte, sich solchen Wettkämpfen zu stellen — aber warum taten sie das? Konnte man dadurch gesellschaftliches Prestige gewinnen, dass man sich im Kreidekreis dieses schwierigen, angeblich überdurchschnittliche Intelligenz erfordernden (uns sind erschütternde Gegenbeispiele aus der täglichen Praxis bekannt) Spieles aufhielt, es förderte und bekannt machte?

Anders als es die Erscheinung der Arbeiterschach-Vereine nahe legen, die m.E. eine Gegenreaktion auf die bestehende bürgerliche Kultur und Überlegenheits-Anspruch darstellten, ist zu vermuten, dass Schach Ende des 19. Jh eine goutierte Beschäftigung des mittleren und höheren Bürgertums war, jener Kreise, die in den Salons der Metropolen ein und aus gingen und dort — neben manchem Geschäft — ihrem Müßiggang nachgingen. Balzac und Fontane etwa liefern uns darüber anschauliche Schilderungen.

Wie aber konnte es sich ein Steinitz leisten, Schach zu spielen? Wie ein Tarrasch, ein Duras, ein Blackburne usw.? Wie kamen sie überhaupt auf die Idee, das zu tun? In welchem gesellschaftlichen Licht stand ein Schachspieler damals — als zwielichtiger Fast-Bewohner eines Kaffeehauses oder als genialer Geistes-Akrobat?

Über die angenehm zu lesenden Spielerporträts zurück liegender Epochen, die wir etwa der Rochade (Helmut Wieteck) entnehmen, müssten diese Fragen untersucht werden, um ad finitum vielleicht auch Rückschlüsse auf das gesellschaftlicher Leben jener jeweiligen Zeit ziehen zu können.

Ralf Mulde